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Pop, Reminiszenz und Propaganda

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Im April 2018 präsentierte das Far East Film Festival in Udine zum mittlerweile 20. Mal meist aktuelle Filme aus China, Südkorea, Japan, Indonesien, Philippinen und Hongkong. Peter Clasen war wieder dabei und berichtet…
 

Zum Auftakt ein mörderischer Stahlregen

 

Das 20. Far East Festival in Udine, Norditalien, anderthalb Zugstunden von Venedig entfernt, besucht von 60.000 Kinozuschauern und 20.00 weiteren Besuchern städtischer Kulturveranstaltungen, begann mit einem Knaller: „Steel Rain“ (Südkorea 2017; Regie: Yong Woo-seok), nicht nur ein hochbudgetierter Actionthriller, wie ihn die Südkoreaner so blendend beherrschen, sondern eine Netflix-Produktion, die außerhalb Asiens sonst nicht weiter zu sehen sein wird. Mit einer verrückten, überaus koreanischen, weil melodramatischen Geschichte: Auf die Sonderwirtschaftszone Kaesong fallen Splitterbomben, als „Nummer eins“, der „Große General“, gefeiert werden soll. Ein nordkoreanischer Geheimagent überlebt haarscharf und erkennt, dass es das nordkoreanische Militär selbst war, das den Anschlag verübte. Der Agent entkommt in einem Van – mitsamt dem schwer verletzten „General“, um ihn nach Südkorea zu verfrachten und einen Krieg zwischen beiden Ländern zu verhindern. Die politische Lage ist verworren, tangiert sind auch China, Japan und die USA…

 

Thema überall: Korruption und Gewalt

 

Bleiben wir kurz bei Südkorea. Viele wissen nicht, wie jung diese Demokratie überhaupt ist. Das epische Politdrama „1987: When the Day Comes“ (Südkorea 2017; R: Jang Joon-hwang) führt uns in die letzten Tage und Wochen der Militärdiktatur zurück, als sich revoltierende Studenten, ein aufsässiger Staatsanwalt und schließlich auch die katholische Kirche gegen die Unterdrücker wehren… Ein großes, großartig erzähltes Fresko, weitgehend unprätenziös, erst am Ende voller Jesus-Analogien. Einer der besten Filme in Udine 2018. Nicht verwunderlich, dass „1987“ den ersten der drei Publikumspreise des Festivals erhielt.

 

Korruption und Gewalt in südkoreanischen Familienkonzernen, Chaebol bzw. Jaebeol genannt (prominentestes Beispiel: Samsung), und in der dortigen Klassengesellschaft allgemein sind das Thema des Cop-Krimis „Veteran“ (Südkorea 2015; R: Ryoo Seung-wan). Ein Detective (großartig wie immer: Hwang Jung-min) untersucht, warum ein braver Lasterfahrer, Angestellter eines Subunternehmers eines solchen Chaebols, im Koma liegt – und kriegt die ganze Arroganz und Perfidie des kranken, erzkapitalistischen Systems zu spüren… Südkoreanisches Popcornfutter mit klar politischer Aussage.

 

Das ist in Malaysia kaum anders, nur der Maßstab ist etwas kleiner: Das Familien- und Kriminaldrama „Crossroads: One Two Jaga“ (Malaysia 2018; R: Nam Ron) zeigt die zynische Ausbeutung von Arbeitsmigranten aus Indonesien in Malaysia. Am paradoxen Ende der tragisch verlaufenden Geschichte müssen zwei indonesische Geschwister einen Gangster dafür bezahlen, dass man sie in die Heimat „zurückschleust“…

 

Beispiel China: Bergarbeiter Baomin hat dagegen aufgemuckt, dass „feine“ Herren aus der Stadt die Kohlemiene an sich gerissen haben, die Arbeiter vertreiben oder ihnen miese Verträge aufzwingen. Dass das illegal ist, kümmert sie nicht. Als man Baomins kleinen Sohn entführt, macht er sich auf in die Stadt – er ist stumm, aber er verschafft sich eine Stimme… Das Thrillerdrama „Wrath of Silence“ (Volksrepublik China 2017; R: Xin Yukun) erzählt auf grotesk-grimmige Coen-Brüder-Art vom modernen China der erzkapitalistischen Ausbeuter und Verbrecher, von den Perversionen des Reichtums und dem Verlust der Menschlichkeit.

 

Beispiel Indonesien: Wie ein (Bürger-) Krieg eine Gesellschaft zerrüttet und das ganze Land zerstört, ist das Thema im Roadmovie-Drama „Nightbus“ (Indonesien 2017; R: Emil Heradi). Alleiniger Schauplatz ist ebenjener Nachtbus, besetzt mit gewöhnlichen Reisenden aller Couleur. Es dauert nicht lange, da gibt es die erste Militärkontrolle. Nicht nur am Straßenrand spielen sich verstörende Szenen ab, sondern auch im Innern des Busses. Je länger die Fahrt dauert, desto größer wird für die Zivilisten die Gefahr durch Soldaten, Gangster und Terroristen… Was für ein bestürzender, toller Film, und wie sehr habe ich mich geirrt: Das absolut preiswürdige Meisterwerk hat in Udine nichts gewonnen. Manchmal ist auf die Italiener einfach kein Verlass…

 

Fantasy: Superhelden und Aliens gegen teuflische Katzen

 

Drei Fantasy-Wunderkerzen zwischendurch: In Japan ist das Genre so bedeutend, dass sich auch das Fernsehen nicht lumpen lässt. Die Manga-Superhelden-Verfilmung „Inuyashiki“ (Japan 2018; R: Sato Shinsuke) ist aufwendig wie ein Kinofilm. Hauptfiguren sind ein krebskranker Familienvater und ein verstörter Teenager: Eines Nachts fährt beiden eine überirdische Macht in die Glieder und macht sie zu schier unzerstörbaren Cyborgs. Der alte Inuyashiki stellt alsbald fest, dass er im Nu Sterbenskranke heilen kann, der junge, hasserfüllte Hiro dagegen wird zum Killer… Das unvermeidliche Duell der Giganten ist kaum schlechter als die letzten Hollywood-Begegnungen von Batman und Superman, bei aller Groteskerie aber auch genauso humorlos. Trotzdem: Wo findet sich Vergleichbares im deutschen TV oder sonstwo in Europa?

 

Subtiler und verstörender ist das Sci-Fi-Horrordrama „Yocho“ bzw. „Foreboding“ (Japan 2017; R: Kurosawa Kiyoshi), in dem sich einige Japaner auf einmal vor ihren Arbeitskollegen und Familienangehörigen fürchten, durchaus zu recht: Die geisterhaften Mitbürger sind Aliens, die noch nicht wissen, wie die Menschen ticken und die darum bemüht sind, unsere „Konzepte“ zu studieren – zum Beispiel das „Konzept“ Familie oder das „Konzept“ Todesangst. So erscheint das uns Vertraute in diesem Film immer fremder, während ein dunkler Regen das Ende der Welt ankündigt… Typischer J-Horror, auch ein Konzept – elegisch, creepy, mit großartiger Horrormusik, manchmal unfreiwillig komisch.

 

Während Japan sich in höflichem Minimalismus bescheidet, trumpft China maximal-imperial auf: Im Kostümthriller „Legend of the Demon Cat“ (Volksrepublik China 2017; R: Chen Kaige) versuchen zwei junge Männer – der chinesische Hofschreiber Bai und der aus Japan kommende Mönch und Exorzismus-Spezialist Kukai – das böse Geheimnis einer dämonischen Katze zu ergründen. Alles hängt mit einem riesigen Fest zusammen, das ein Herrscher einst für seine liebreizende Braut gab – bis es in Blut, Tränen und Verdammnis endete… Einerseits die Katze, die sich von Augen ernährt (nicht nur denen von Fischen), andererseits der Film, der seine Zuschauer mit einer Pracht blendet, die selbst die üppigsten Disney-Märchenfilme protestantisch aussehen lässt: Ohne Sehsinn lässt sich die Verführungskunst festlandchinesischer Filme nicht begreifen. Wie heißt der Superlativ von verschwenderisch? Egal, hier ist er!

 

Petitessen und Preziosen: Die Kunst der klitzekleinen Form

 

Prestigeproduktionen sind nur ein Aspekt der Filme, die Udine präsentiert. Daneben gibt es viele „kleine“ Werke, die sich mindestens ebenso großen Zuspruchs erfreuen. Zum Beispiel der Schmachtfetzen „The 8-Year Engagement“ (Japan 2017; R: Zeze Takahisa), worin der zurückhaltende Hisashi und die lebhafte Mai sich kennen und lieben lernen und heiraten wollen, ehe Mai ins krebsbedingte Koma fällt. Wider alle familiären Widerstände und medizinischen Wahrscheinlichkeiten glaubt Hisashi fest daran, dass Mai eines Tages wiederkehrt und dreht für sie viele kleine Videobotschaften, die er ihr aufs Handy schickt. Acht Jahre lang! Muss man ausführen, was weiter passiert? Aber nein, und alle Mädels sind hingerissen…

 

Wieder Japan, erneut recht eigenartig: „The Name“ (Japan 2018; R: Toda Akihiro), ein tragikomisches Drama über einen Geschäftsmann, 43, Raucher, der eigentlich nur ein kleiner Plastikflaschensortierer mit dubioser Vergangenheit ist. Eines Tages lauert ihm eine Schülerin auf, die mehr über ihn weiß, und die selbst nicht ganz die ist, die sie vorgibt… So finden zwei Menschen zusammen, die sich etwas geben, was ihnen sonst fehlt, nur was…? Vielleicht der japanischste Japan-Film des Festivals.

 

Hey, der Jazzoper-Musicaldrama-Kammerspiel-Kostümfilm „The Portrait“ (Philippinen 2017; R: Loy Arcenas) ist wirklich ungewöhnlich: Im Oktober 1941, kurz bevor die Philippinen in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen werden, scheint das Schicksal eines vornehmen Hauses an eben jenem berühmten Gemälde im Salon zu hängen, auf das sich der Filmtitel bezieht. Frage also: Behalten oder verkaufen? Bleiben oder fortgehen? Leben oder sterben? – Wer „Die Regenschirme von Cherbourg“ liebt, sollte sich den Filmtitel notieren.

 

Epos! oder: Asia-Grandezza meets Spaghetti-Grandeur

 

Was ich am Far East Film Festival besonders schätze: Dass es nicht der Kunst verpflichtet ist und keinem Bildungsauftrag folgt. Es zeigt, was der asiatische Filmmarkt an Bemerkenswertem hergibt, und wenn es ein klasse gemachter Propagandaschinken ist, dann eben auch diesen. Zum Beispiel „Youth (Volksrepublik China 2017; R: Feng Xiaogang), ein romantisches Epos über eine Kriegsarmee und seine mitgeschleifte Kunstbrigade (Revolutionsballett plus Orchester). Hauptfiguren sind der Tänzer Lin Feng und die Tänzerin He Xiaopeng, die einander freundschaftlich verbunden sind, im sino-vietnamesischen Krieg übermäßig gefordert werden – und erst Jahre später verstehen, dass es Liebe war, die sie verband… Als Romanze nicht übel, als Historienstück reine Geschichtsklitterung und Mao-freundliche Politpropaganda. Sowas muss man einfach aushalten können.

 

Schier atemberaubend ist die Entwicklung, die das Genre des Schwertkampf-Films genommen hat: Nach den wuchtigen Japan-Klassikern der 50er- und 60er-Jahre kamen die mal knüppelharten, mal schier schwerelosen Hongkong-Trasher der 70er und 80er, gefolgt von staksigen Bemühungen des südkoreanischen Kinos in den 90ern, doch nichts kommt dem gleich, was China in den Nuller- und Zehner-Jahren des neuen Jahrtausends gefertigt hat: „Brotherhood of Blades II – The Infernal Battlefield“ (Volksrepublik China 2017; R: Yang Lu) heißt das neueste Meisterwerk, ein erstklassig gemachtes Spektakel zu Anfang des 18. Jahrhunderts, in dem einfach alles stimmt, auch die (Krimi-) Spannung. Wieder weiß man nicht, wie das hier je zu toppen sein soll. Aber Teil 3 ist natürlich schon in der Mache…

 

Die vielleicht größte Extravaganz unter den in Udine präsentierten Epen: das Weltkriegsdrama „The Battleship Island“ (Südkorea 2017; R: Ryoo Seung-wan), hier als Director’s Cut gezeigt, Trauma-Kino par excellence. Südkoreanische Bürger werden von den japanischen Invasoren nach Battleship Island verfrachtet: Die Männer sollen dort unter Tage in der kriegswichtigen Kohlemiene schuften, die Frauen und Mädchen den Japanern als „Comfort Women“ dienen, als Prostituierte also. Das Jahr: 1944. Der Ort: jene Insel nahe Nagasaki (na, klingelt da was?!). Der Rest erzählt sich fast von selbst. Nämlich derart, dass selbst sein begnadeter Hauptdarsteller Hwang Jung-min keine Chance hat, seine Schauspielkunst irgendwie auszuschöpfen, und das will was heißen. So kulminiert das Inselkammerspiel in einem hoch tragischen Fluchtmassaker, das mit einem akustischen Trick absolut unvergesslich wird: Untermalt wird es vom Track „L’estasi dell’oro“ aus dem Italowestern „Zwei glorreiche Halunken“, einem der größten Hits von Ennio Morricone. Gute Frage: Darf man das machen? Keine Ahnung, aber es wirkt! Und wie: Dritter Publikumspreis in Udine!

 

Gangster: Bandenkriminalität contra Filmproduktionsversagen

 

Sehr, sehr stark waren dieses Jahr wieder die Gangsterfilme. Bloß nicht dort, wo man es vermutete (siehe weiter unten). „Gatao 2: Rise of the King“ (Taiwan 2018; R: Yen Cheng Kuo) erzählt vom Bandenunwesen in Taipei, wobei zwei Alphatiere ihr Fußvolk in eine Spirale der Gewalt hinabschicken, die selbst von Politik und Polizei nicht mehr gestoppt werden kann… Mir persönlich fehlen ein paar erzählerische Details, wie sie „Monga“ zum modernen Klassiker gemacht haben, trotzdem kommt „Gatao 2“ gleich danach. Sehr aufwändig gemacht, die Cinemascope-Kamera ist brillant.

 

Noch ein Megaknaller: Der epische Polizei-vs-Yakuza-Krimi „The Blood of Wolves“ (Japan 2018; R: Shiraishi Kazuya) enthält eine verwirrende Anzahl von Namen, ist im Prinzip aber das Drama zwischen Cop-Boss Ogami und Assistent Hioka, also zwischen beflecktem Polizeiveteranen und junger Unschuld, die sich erst noch die Hände schmutzig machen muss. Die Geschichte spielt 1988, erinnert aber deutlich an die großen japanischen Gangsterfilme der 70er-Jahre. Ruppig, überraschend, spannend, exzellent.

 

Der Flop schlechthin: „A Better Tomorrow“ (Volksrepublik China 2018; R: Ding Sheng), das zweite offizielle Remake des Klassikers von John Woo (1986), wobei das „Original“ schon ein Remake war, nämlich von „Story of a Discharged Prisoner“ (Hongkong 1967). Wie dem auch sei: eine Klassikerschändung par excellence. Die „Story“ spielt sich in kurzen und kürzesten Szenen ab, die lustlos runtergeholzt werden, der Film sieht aus, wie in einer Woche abgekurbelt. Ärgerlich, dass man auf sowas reinfällt – oder auch, dass das Far East Film Festival so eine Grütze überhaupt anbietet. Aber, wie gesagt, in Udine zählt ja auch das bloße Event, nicht nur die Kunst, und so stimmt’s dann doch.

 

Thriller: Wenn Rentner, Priester und Traumatisierte ermitteln…

 

Zwei Länder, drei Fälle: Der Korea-Krimithriller „The Chase“ (Südkorea 2017; R: Kim Hong-sun) schickt zwei alte Männer auf die Spur eines Serienkillers, der die Elendsadressen eines idyllischen Küstennests heimsucht, und doch hat beider Phantasie nicht gereicht, sich das wahre Ausmaß des Terrors vorzustellen… Wenn das deutsche Fernsehen zwei Rentner auf die Pirsch schickt, dann gibt es lahmes, butterweiches Kukident-TV. Wenn sowas in Südkorea passiert, wird’s knackig.

 

Brisantes Thema, lascher Beitrag: Im Kriminaldrama „Smaller and Smaller Circles“ (Philippinen 2017; R: Raya Martin) untersucht ein Jesuitenpater und Forensiker der Kirche in Manila die grausam verstümmelten Leichen vorpubertärer Jungen, die auf einer Müllhalde gefunden wurden – wer mögen nur die gottlosen Täter sein? – Der Hollywoodfilm „Spotlight“ hat die Richtung vorgegeben, sein philippinisches Pendant kommt viel zu lau und devot daher, um die Missbrauchsthematik einigermaßen adäquat zubehandeln.

 

Noch ein ausgefuchster Minithriller: In „Forgotten“ (Südkorea 2017; R: Jang Hang-jun) zieht eine Familie mit den zwei fast erwachsenen Söhnen in ein neues Zuhause, wo sich beide rasch immer fremder werden… Ein Mindfuck-Schocker, bei dem man schnell weiß, dass noch ein ziemlich doller Twist zu erwarten ist. Nur welcher? Die Auflösung ist komplex und trickreich, streift die Thriller eines Alfred Hitchcock (Verweise auf „Psycho“ und „Vertigo“), ähnelt generell aber auch den verstiegenen Komplotten eines William Castle – während das melodramatische Ende wieder ganz koreanisch ist. Kein großer Film, aber ein sehr hübscher Verwirrthriller.

 

Das Hongkong-Kino lebt, zumindest noch ein kleines Bisschen

 

Das Hongkong-chinesische Kino, das uns in der 70er- und 80er-Jahren die Birne wegfetzte, ist aus, vorbei und so gut wie tot. In den Erinnerungen mancher Zeitzeugen existiert es eine Weile weiter (die HK-Nachtvorstellungen der Berlinale im Delphi-Kino!). Und die Udineser Festivalmacher tragen mit digitalen Restaurierungen ihren Teil dazu bei, dass das Vermächtnis der einst vitalsten, kreativsten Kinematografie der Welt nicht noch schneller verblasst. So wurde denn der „Chungking Express“ (Hongkong 1994; R: Wong Kar-wai) neu aufgelegt, mit Brigitte Lin herself als Gaststar in Udine!!! Wie begeistert wir alle an diesem Abend waren, lässt sich gar nicht in Worte fassen… Leider beendete Brigitte Lin ihre Arbeit als Darstellerin ziemlich genau 1997, als auch das „alte“ Hongkong vorbei war.

 

Ein anderes Rettungsprojekt war „Throw Down“ (Hongkong 2004; R: Johnnie To), ein für seinen Regisseur typisches Minimeisterwerk – spielerisch, beziehungsreich, offbeat. Louis Koo, Aaron Kwok und Cherrie Ying sind drei junge Leute, die durch Judo, Neonbars und Pop zu Freunden werden – oder so. Der kleine Festivalkatalog nennt das Ganze „martial arts noir“, auch nicht sonderlich treffend, aber ein interessanter Versuch. Der Film ist ein ziemliches Rätsel. Regisseur Johnnie To hat es dem größten seiner Zunft gewidmet, nämlich Akira Kurosawa! Dabei hat „Throw Down“ ganz anderen Filmern viel mehr zu verdanken – Jacques Demy, Jean-Pierre Melville und dem Oscar-prämierten Kurzfilm „Der rote Ballon“ (Frankreich 1956, R: Albert Lamorisse)! – PS: Die Geschichte des klassischen Hongkong-Kinos endet an sich 1997, und zwar mit der Übergabe der britischen Kronkolonie an China. Dass hier ein Film aus dem Jahr 2004 bedacht wurde, zeigt, dass der „Geist“ des guten, alten Hongkong-Kinos noch virulent war. Nur wo ist er heute?

 

Chapman To, einer der allerletzten Hongkongstars, und auch einer der eher kleinen, hat sich als Regisseur und eigener Hauptdarsteller am Karatedrama „The Empty Hands“ (Hongkong 2017; R: Chapman To) versucht. Das Ergebnis ist sympathisch, aber nur ein blasser Abglanz der einstigen Martial-Arts-Herrlichkeit.

 

Ebenfalls ohne echte Chance ist „No. 1 Chung Ying Street“ (Hongkong 2018; R: Derek Chiu), aber der rebellische Geist, der ist noch da! Das edel in Schwarzweiß und Cinemascope gefilmte Historiendrama verbindet zwei besonders schmerzvolle Episoden in der Historie Hongkongs: das Sha Tau Kok-Massaker von 1967, das 51 Todesopfer forderte (als Briten (!) die Aufständischen niederknüppelten), und die Demos der Umbrella-Bewegung 2017 (die von Peking angefeindet wurden). In einem dritten, „utopischen“ Segment, das Sha Tau Kok im Jahre 2019 zeigt, geht der Kampf gegen den Verlust der Heimat weiter – gegen Bodenspekulation, Vertreibung, Behördenwillkür.

 

Böse Chinesen, gute Chinesen – oder: Propaganda!

 

Das Spannendste zum Schluss. Vielleicht ist es Zufall, vielleicht auch nicht: Festlandchinesen haben einen schlechten Ruf im Kino angrenzender Länder. Sie gelten als Invasoren, Gewalttäter, Unmenschen. Im Teenboythriller „Midnight Runners“ (Südkorea 2017; R: Jason Kim bzw. Kim Joo-hwan) werden zwei Polizeikadetten Zeuge, wie Mädchen nachts auf offener Straße von chinesischen Mafiosi gekidnappt werden… Im Polizei-gegen-Gangster-Krimi „The Outlaws“ (Südkorea 2017; R: Kang Yoon-sung) fallen chinesische Gangster in Südkorea ein und erpressen mit zuvor ungekannter Brutalität Schutzgeld von Bürgern und Lokalen. Die örtliche Polizei muss mit List und gleicher Brutalität zurückschlagen, denn der Feind beginnt sich schon mit den rivalisierenden lokalen Banden zu verbünden…

 

Jetzt zu den guten Chinesen, jedenfalls gemäß ihres eigenen Selbstverständnisses. Hohe Wellen schlug das chinesische Actionabenteuer „Wolf Warrior II“ (Volksrepublik China 2017; R: Wu Jing; D: Wu Jing), selbst in Deutschland wurde der allererfolgreichste Chinafilm ever in Sondervorstellungen präsentiert. Der Plot: Elitekämpfer Leng Feng, der gerade Seepiraten den Garaus gemacht hat, relaxt am Strand von Afrika, als dort aufständische Milizen einen Krieg losbrechen. Leng Feng schlägt sich auf die Seite der bedrängten Bürger – und auf die Seite der ebenso bedrohten Chinesen, die dem Land Gutes tun, zum Beispiel mit einem medizinischen Zentrum im Seuchengebiet und einer Fabrik, in dem Schwarze und Chinesen Seit’ an Seit’ arbeiten… Dass der Film nur zweitklassige Action im Stil der 90er-Jahre bietet, ist hier zweitrangig. Wichtig dagegen ist China als Beglücker und Befrieder des schwarzen Kontinents! – Aber es geht noch weiter…

 

…denn es gibt noch „Operation Red Sea“ (Hongkong / Volksrepublik 2018; R: Dante Lam), den großkalibrigen Anti-Terror-Kriegsfilm, der quasi dieselbe Topografie bespielt (Aufmacherfoto). Der Plot: Das 19. Escort Team (aka: Jiaolong Assault Team) der chinesischen Kriegsmarine ist 2015 vor Afrika im Einsatz und schlägt somalische Piraten in die Flucht, die ein chinesisches Containerschiff gekapert hatten. Danach geht es weiter zum (Phantasie-) Staat Yewaire, wo ein Krieg ausgebrochen ist – dabei ist auch das chinesische Konsulat in Gefahr. Die Elitekämpfer sollen 130 chinesische Zivilisten, den Konsul und weitere Offizielle retten, während Terroristen die Stadt in Schutt und Asche legen und schließlich das ganze Land zum Kriegsschauplatz machen…

 

Mal abgesehen davon, dass Regisseur Dante Lam, neben Johnnie To der letzte Großmeister des Hongkong-Kinos, mit dem ca. 70 US-Millionen teuren Film ein irrsinnig aufwändiges, absolut beeindruckendes Spektakel gelungen ist, das nicht zuletzt an Ridley Scotts „Black Hawk Down“ erinnert. Nein, das eigentlich Interessante ist, dass „Operation Red Sea“ und der zuvor erwähnte „Wolf Warrior II“ quasi die gleiche Geschichte erzählen. Einmal als Abenteuerspaß, das andere Mal als Kriegstragödie. Beide Male geht es darum, dass Afrika bedroht ist, und beide Male darum, dass China die Rettung bringt.

 

Natürlich ist das kein Zufall. Wer derzeit seine Tageszeitungen und Wochenmagazine aufmerksam liest, kann feststellen, dass beide Filme auffällige Ähnlichkeiten zu tatsächlichen wirtschaftlichen Einflussgebieten und internationalen Repräsentanzen der Chinesen aufweisen. Die taz berichtet am 28.8.2018, dass mittlerweile über 90 Milliarden US-Dollar-Kredite aus China an afrikanische Regierungen und Staatsunternehmen geflossen seien, und am 5.9.2018, dass China beim großen Afrika-Forum in Peking mit 53 Regierenden Afrikas weitere 60 Milliarden US-Dollar in Aussicht stellt – nur für die nächsten drei Jahre! Für Straßen, Schienen, Fabriken, Häfen, ganze Städte… Und: Nicht weit von dort, wo a) lustige Kung-Fu-Klopper oder b) tragische Spezialteams gegen Seepiraten und Terroristen vorgehen, hat China in Dschibuti seine erste eigene Militärbasis aufgebaut – größer als die dortige französische und die amerikanische zusammen… China bringt sich ein, und die Filme, die es verbreitet, bereiten die Sache schon mal vor: Rote Fahnen überall, und alle Menschen jubeln!

 

„Wolf Warrior II“ und „Operation Red Sea“ sind nicht einfach nur Filme, nicht einfach nur Unterhaltung. Sie sind Ausdruck einer bestimmten Politik. Mit der neuen Seidenstraße rückt China immer näher an Afrika und Europa heran. Es sind „Seidenstraßenfilme“. Da kommt noch einiges auf uns zu…

 

Peter Clasen

 


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